Diskussion über Foodtrends als Chance für eine nachhaltige Entwicklung
Frau Rützler, Sie haben unlängst den zehnten „Foodreport“ herausgebracht und beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dem Thema Ernährung und Lebensmittelproduktion. Was sind aus Ihrer Sicht die entscheidendsten Entwicklungen in diesem Sektor seit der ersten Ausgabe? Was hat sich verändert?
Hanni Rützler: Was ins Auge sticht, ist, dass sich in den letzten Jahrzehnten ein hochgradig industriell arbeitsteiliges Food-System entwickelt hat. Ein System, das einerseits hochgradig effizient und gleichzeitig extrem zerbrechlich ist – hochgradig produktiv, gleichzeitig sehr brüchig, extrem fantasielos und fokussiert und gleichzeitig hochgradig innovativ. Es kommt sehr stark darauf an, wie man auf dieses System schaut.
Mag.a Hanni Rützler
Foodtrend-Forscherin, Gründerin und Leiterin des futurefoodstudios, Wien
Und wie schauen Sie auf dieses System?
Hanni Rützler: Als Trendforscherin, die Antworten auf aktuelle Probleme, Wünsche und Sehnsüchte sucht, schaue ich in erster Linie auf Lösungen. Das heißt nicht, dass ich die Probleme übergehe, aber ich suche nach Lösungsansätzen. Und auch hier haben wir an Tempo zugelegt – es geht um Nachhaltigkeit, Gesundheit, Resilienz bzw. um die Zukunftsfitness des weltweiten Ernährungssystems. Da bewegt sich viel, wobei aktuell das Thema Fleisch, als Belastungsfaktor für die Umwelt und Gesundheit, im Zentrum steht. Früher gab es im alpinen Raum noch viel mehr Regionen, in denen Getreide angebaut wurde. Heute liegt der Fokus fast ausschließlich auf Viehwirtschaft. Die Vielfalt an pflanzlichen Lebensmitteln kommt traditionell zu kurz. Wir brauchen einen stärkeren Fokus auf pflanzliche Alternativen, auch weil wir sehen, dass viele Bauern mit der aktuellen landwirtschaftlichen Ausrichtung kaum überleben können. Wir haben Überproduktion auf der einen Seite und Food Waste und Mangel auf der anderen.
Es haben sich ja auch die Essgewohnheiten stark verändert. Jeden Tag Fleisch, das war früher undenkbar.
Hanni Rützler: Ja, möglich wurde dies durch die Industrialisierung der Landwirtschaft, neue Zuchtmethoden, den Import von Futtermitteln und den vorrangigen Fokus auf Effizienz. Langsam werden wir uns der Schattenseiten dieser einseitigen Ausrichtung bewusst: Die Folgen sind Klimawandel und der Verlust der weltweiten Artenvielfalt. Aktuell nutzen wir nur fünf Tierarten und zwölf Pflanzenarten, um die Welt zu ernähren. Das ist eine Fokussierung, die unser ganzes System extrem angreifbar macht. Das ist weder nachhaltig noch resilient, das System zeigt inzwischen viele Bruchstellen. Wir müssen lernen, weniger auf den kurzfristigen Ertrag zu schauen und systemischer an das Thema heranzugehen. Es braucht alle Akteure: die Landwirtschaft, die Verarbeitung, den Handel, die Konsumentinnen und Konsumenten, um an Themen wie Bodenqualität, Saatgut, Food Waste, Transparenz, alternative Fleischprodukte etc. erfolgreich zu arbeiten.
Welche wichtigen Trends lassen sich bei der Esskultur erkennen?
Hanni Rützler: In meiner Arbeit als Foodtrend-Forscherin sehe ich sieben verschiedene thematische Cluster, mit deren Hilfe sich der Wandel beschreiben lässt. In den Clustern Nachhaltigkeit und Glokal – eine Wortfusion aus global und lokal – tut sich besonders viel. Aktuell zeigen sich viele kleine Trends, was immer ein Zeichen dafür ist, dass es viel Suchbewegung gibt, aber der große Wurf noch auf sich warten lässt. Aktuell werden Fragen zu Regionalität und Globalisierung ganz neu gestellt. Wo macht Globalisierung Sinn, wo nicht? In diesem Zusammenhang habe ich letztes Jahr einen Trend beschrieben, der sich Local Exotics nennt. Dieser Trend geht von innovativen Bäuerinnen und Bauern aus, die sich auf die Suche nach neuen Ausgangsprodukten machen, die bei uns keine Tradition, aber – angeschoben durch Klimawandel, Dürre und Starkregen – ein großes Zukunftspotenzial haben. Ein sehr spannender Trend, der noch am Beginn steht, aber sich jetzt sehr rasant entwickelt. Das geht von Ingwer, Wasabi, Artischocken, Erdnüssen etc. bis hin zu Indoor-Garnelen und Aquaponik, was derzeit in der Schweiz sehr stark ausgebaut wird.
Mag. (FH) Dieter Aigner
Moderator der Diskussion und Geschäftsführer Raiffeisen KAG
Herr Robin, Sie vertreten einen Lebensmittelkonzern. Bewegen wir uns nicht in die falsche Richtung, wenn wir Alternativen zu Konsumgütern überlegen, von denen wir ja eigentlich zu viel essen? Brauchen wir jeden Tag diese Mengen an Fleisch? Oder in Zukunft vielleicht Fleischersatz …
Matthew Robin: Ich denke, dass ein Schritt zurück zu einer einfacheren Kost, ja vielleicht sogar weniger Auswahl der bessere wäre. Wir haben in der Schweiz viel weniger Markenauswahl als in Deutschland oder in Österreich. Ich persönlich finde das gut. Es ist einfacher, wenn man nicht aus einer Unzahl an Marken wählen muss, die sich kaum voneinander unterscheiden. Was die von Frau Rützler angesprochene Globalisierung betrifft, haben wir in der Schweiz fast ein bisschen heile Welt, weil wir davon viel weniger betroffen sind.Wir haben geschlossene Grenzen und damit große Barrieren, Fleisch oder Milch zu importieren. Es gibt zwar Massentierproduktion, aber nicht in den Dimensionen, wie wir sie aus anderen Ländern kennen. Bauern verdienen aufgrund von Direktzahlungen genug, um überleben zu können. Ich persönlich denke, dass dieses System funktioniert. Es macht Lebensmittel teurer, aber wir sind auf eine gewisse Art geschützt und ich denke, dass uns das erlaubt, Kreislaufwirtschaft zu betreiben.
Wie schaut das in der Praxis aus?
Matthew Robin: Unsere Milch- und Käsebetriebe arbeiten eng mit den Fleischproduzenten zusammen. Das heißt, die Molke, die wir produzieren, wird für die Kälbermast und -ernährung verwendet. Wir verwerten, wo möglich, die Biomasse von den Bauernhöfen als Energielieferant. Uns ist wichtig, auf die ganze Wertschöpfungskette zu achten und den Wirtschaftskreislauf zu schließen. Bei den hohen Kosten in der Schweiz lohnt sich das auch und ich bin überzeugt, dass das die Zukunft der Nahrungsmittelindustrie ist. Nachhaltigkeit ist für uns eng verknüpft mit Wareneffizienz. Unser ganzes System wird durch zu tiefe Energiepreise verzerrt und wir sehen mit dem Krieg in der Ukraine nun das Ausmaß. Wir haben in einer Traumwelt mit viel zu tiefen Energiepreisen gelebt, die nicht die Realität unserer Gesellschaft abbilden.
Nun lässt sich die starke Nachfrage nach Fleisch ja nicht einfach wegreden. Und der Handel ist gefordert, darauf zu reagieren. Wie machen Sie das?
Matthew Robin: Wir sind derzeit noch nicht in der Phase, dass wir unbedingt kultiviertes Fleisch anbieten müssten. Wir sehen aber, dass es ein weltweiter Trend ist, und sind überzeugt, dass sich diese Technologie durchsetzen wird, um den weltweiten Fleisch- und Proteinbedarf zu decken. Wir werden auch in der Schweiz zunehmend unter Druck kommen, noch mehr nachhaltige Produkte anzubieten, und es ist die Philosophie von Migros, unseren Konsumentinnen und Konsumenten die Wahl zu geben. Wir sind ein sehr großer Fleischproduzent und es ist für uns strategisch sehr relevant, uns bei Trends zu positionieren, die die gesamte Fleischproduktion europa- und weltweit beeinflussen könnten.
PhD Matthew Robin,
CEO, ELSA-Mifroma Group at Migros-Genossenschafts-Bund, Zürich
Frau Gaupp, Sie arbeiten gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Landwirtschaft, Gesundheit und Ernährung daran, Wege zu einem nachhaltigen und gesunden Lebensmittelsystem zu erforschen. Wie könnte ein solches aus Ihrer Sicht aussehen?
Franziska Gaupp: Wir konzentrieren uns in unserer Arbeit auf drei Aspekte: auf eine gesunde Ernährung, auf die Reduktion von Umweltschäden und die Einhaltung der Klimaziele sowie auf soziale Gerechtigkeit. Im Moment muss man einfach sagen, dass unser Ernährungssystem extrem viele negative Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit hat. Das ganze System, also von der Produktion bis zum Konsum, ist für ein Drittel der globalen Treibhausgase verantwortlich. Das Agrarsystem nutzt 40 Prozent der eisfreien Landflächen und es ist weltweit der Sektor mit dem größten Frischwasserverbrauch – ein Großteil davon ist auf die Tierhaltung und den Fleischkonsum zurückzuführen. 80 Prozent der Landflächen werden für Futtermittelanbau und Tierhaltung benötigt und das führt in vielen Teilen der Welt zu Waldrodung und damit Biodiversitätsverlust sowie erhöhten Emissionen. Außerdem ist unser Ernährungssystem oft sehr ungesund. Weltweit leiden drei Milliarden Menschen an Übergewicht – mit einer steigenden Tendenz. Und wir wissen, dass das auch mit dem Fleischkonsum verbunden ist, dass wir zu viel rotes Fleisch essen, was dann zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes führen kann.
Ihr Fokus liegt auf pflanzlichen Alternativen?
Franziska Gaupp: Ja. Ihre vorhin gestellte Frage, ob es überhaupt nötig ist, neue Produkte zu entwickeln, kann ich aus unserer strikt wissenschaftlichen Perspektive nur mit einem Nein beantworten. Denn dieses Protein-Gap, über das viel gesprochen wird, das gibt es im Moment in den meisten Regionen nicht. Zumindest hier in Europa ist unser Proteinbedarf gedeckt. Das heißt, wir können und sollten auf mehr pflanzenbasierte Nahrung umsteigen. Ich verstehe aber natürlich, dass die Industrie interessiert ist, neue Produkte zu entwickeln, wenn global die Nachfrage steigt.
Sind diese Produkte deutlich nachhaltiger?
Franziska Gaupp: Insgesamt haben diese neuen Produkte auf jeden Fall einen kleineren ökologischen Fußabdruck als Fleisch, sie haben einen geringeren Wasser- und Landflächenverbrauch und geringere Treibhausgasemissionen. Allerdings braucht Laborfleisch generell mehr Energie als normale Tierhaltung, da biologische Funktionen wie die Verdauung durch industrielle Prozesse ersetzt werden müssen. Und wenn man dann die soziale Komponente anschaut, dann gibt es die Befürchtungen, dass dieser neue Markt mit diesen neuen Technologien natürlich von den großen Konzernen und Investoren dominiert wird, die das nötige Kapital haben, in Forschung und Entwicklung zu investieren. Kleine Betriebe und auch die Landwirte könnten aus dem Markt gedrängt werden oder zumindest das Nachsehen haben. Und noch ein Satz zur Gesundheit: Auch wenn Makro- und Mikronährstoffe dieser Produkte angepasst und für die Gesundheit maximiert werden können, gibt es andererseits Studien zu existierenden Produkten, die zeigen, dass beispielsweise in Veggie-Burgern oft zu viel Salz und Fett ist und diese Produkte daher gar nicht gesünder sind als normales Fleisch.
Dr.in Franziska Gaupp
Ernährungssystemexpertin, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Berlin
Der Lebensmittelsektor ist auch auf dem Radar von Investoren. Auf welche Innovationen setzen Anlegerinnen und Anleger derzeit auf dem Gebiet?
Günther Schmitt: Als Investor sucht man ja immer nach Anlagemöglichkeiten, die im Wert steigen. Und das passiert gewöhnlich dann, wenn das dahinterliegende Geschäftsmodell funktioniert und ein wachsendes Umfeld vorhanden ist. Momentan ist es sicher so, dass vor allem zwei Bereiche boomen: Das eine ist der Bereich Milch- und Fleisch-Ersatzprodukte, hier gibt es Zuwachsraten sowohl beim Umsatz als auch beim Gewinn. Derzeit sind es vor allem beim Umsatz Zuwächse, von denen traditionelle Lebensmittelkonzerne wie z. B. Nestlé nur träumen können. Unternehmen wie z. B. Oatly, das Hafermilch erzeugt, steigern ihren Umsatz von Jahr zu Jahr deutlich. Und das ist natürlich etwas, wo Investoren hinsehen und dann gerne auf diesen Zug aufspringen. Denn Unternehmen, die es schaffen, ihren Umsatz so schnell zu steigern, die werden irgendwann einmal auch hohe Gewinne erzielen. Das muss nicht heuer sein oder nächstes Jahr, aber irgendwann wird es ziemlich sicher passieren und da möchte man als Investor dabei sein. Allerdings muss man dazusagen, dass es in diesem Bereich noch wenig börsennotierte Unternehmen gibt. Und wenn sie börsennotiert sind, werden diese kleinen Unternehmen oft von großen Konzernen aufgekauft, die in diesem Bereich natürlich ebenfalls reüssieren wollen.
Welche anderen Branchen sind aus Investorensicht interessant?
Günther Schmitt: Ein zweiter großer Bereich ist aus Anlegersicht die Nahrungsergänzungsmittel-Industrie. Da geht es um zusätzliche Vitamine, Farb- und Geschmacksstoffe oder sonstige Zusatzstoffe. Auch diese Unternehmen haben sehr hohe Zuwachsraten beim Umsatz, aber auch beim Gewinn. Last, but not least möchte ich noch das Thema Smart Farming erwähnen. Da geht es nicht nur darum, dass Unternehmen wie John Deere z. B. selbstfahrende Traktoren auf den Markt bringen, sondern auch darum, Bewässerungs- oder Düngesysteme intelligent einzusetzen, nur dort zu bewässern oder zu düngen, wo es notwendig ist. Das spart Wasser und Chemie und bringt große Ersparnis und es zahlt alles auf das Thema Nachhaltigkeit ein
Mag. Günther Schmitt
Leiter Aktien Entwickelte Märkte Raiffeisen KAG, Wien
Ernährung ist ja auch ein sehr politisches Thema. Welche Rolle kommt der Politik zu bzw. sollte sie übernehmen?
Matthew Robin: Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen und so die Nachhaltigkeit im Lebensmittelsystem vorantreiben. Industrie und Wirtschaft werden für sie vorteilhafte Mechanismen immer ausnutzen. So funktioniert die Wirtschaft. Man steht in Konkurrenz und muss auch nicht nachhaltige Produkte anbieten, sonst existiert man bald nicht mehr im Markt. Die Politik hat eine große Verantwortung und muss mit der Industrie in Dialog treten. Es braucht hier aber Lösungen, die europaweit abgestimmt sind. Ich bin zwar ein Verfechter der freien Marktwirtschaft, aber es gibt Grenzen, wenn man wirklich ganze Systeme verändern möchte. Da braucht es gesetzliche Vorgaben und alle müssen an einem Strang ziehen.
Franziska Gaupp: Von der Industrie zu hören, dass es mehr Staat braucht, finde ich sehr interessant. Wir hören das immer wieder, wenn wir mit Industrievertretern sprechen. Ja, wir wollen uns ändern, aber wir können nicht, weil die Rahmenbedingungen uns das gar nicht erlauben … Was unsere eigene Arbeit betrifft, versuchen wir Wege zu finden, um Umwelt- und Gesundheitsschäden des Ernährungssystems einzupreisen und zu internalisieren. Wir schlagen auch konkrete politische Maßnahmen vor. Zum Beispiel könnte man die Mehrwertsteuer auf Gemüse und Obst, Hülsenfrüchte und insgesamt gesunde Ernährung senken oder ganz abschaffen, damit sich eben auch Haushalte mit niedrigeren Einkommen gesundes Essen leisten können, was leider oft nicht der Fall ist. Auf der anderen Seite könnten Preise in Zukunft nicht über die Produktionskosten, sondern eben auch über Umweltauswirkungen kalkuliert werden. Das bedeutet, wir schlagen eine Stickstoffüberschussabgabe vor. Landwirtschaftliche Betriebe, die überdüngen und damit Wasser und Luft verschmutzen, müssen das künftig über eine Abgabe bezahlen. Auch eine Tierwohlabgabe, also ein bestimmter zusätzlicher Preis auf Fleisch, wäre aus unserer Sicht sinnvoll. Es gibt auch Bemühungen seitens der EU, die Biodiversität zu stärken. So wurden bestimmte Brachflächen oder -streifen für die Biodiversität reserviert. Doch in einer politischen Hauruckaktion wurden diese Biodiversitätsstreifen freigegeben, um etwaige Getreidelieferausfälle der Ukraine zu kompensieren, obwohl durch Reduktion der Tierhaltung und damit Futtermittelreduktion viel mehr Fläche gespart werden könnte. Damit werden langfristige Ziele kurzfristigen Notwendigkeiten geopfert. Wir sehen das naturgemäß sehr kritisch.
Gibt es genug politische Initiative, Frau Rützler?
Hanni Rützler: Ich war heuer in Kalifornien, im Fresno County. Das ist das größte agrarische Gebiet in den USA mit massiven Wasserproblemen. Ich habe dort Rindfleisch- und Milchproduzenten getroffen. In einem Nebensatz habe ich erfahren, dass die Milchkühe dort im Schnitt nur dreieinhalb Jahre alt werden. Dann sind sie nicht mehr effizient und werden zu Würsten und Burgern verarbeitet. Und ich muss sagen, das hat mich erschüttert. Zumal ich weiß, welche tolle Qualität altes Rindfleisch sensorisch haben kann. Da ist mir bewusst geworden, dass der Preis von Rindfleisch aktuell am Markt wenig mit Qualität zu tun hat, sondern ganz stark mit der strukturellen Ausrichtung der Betriebe. Da ist eine Dynamik im Gang, die dazu führt, dass wir wirklich an die Grenzen funktionierender Ökosysteme stoßen – auch was, wie schon erwähnt, den Boden betrifft. Starkregen, Klimawandel bringen uns unter Zeitdruck, das ganze System nachhaltiger auszurichten. Wir brauchen regionale Konzepte, die Bauern wieder eine Vision bieten und ihnen die Ängste nehmen, ihre Produkte bald nicht mehr oder nur zu Schleuderpreisen absetzen zu können. Ich würde mir wünschen, dass Regionen eigene kulinarische Profile entwickeln und Zukunftsvisionen. Vielleicht gibt es künftig die Möglichkeit, in Regionen zu investieren und dass das Thema Kreislaufwirtschaft auch an der Börse eine wichtigere Rolle spielt.
Wie nachhaltig ist die Lebensmittelindustrie aus Investorensicht? Welche Kriterien sind entscheidend, um zu investieren?
Günther Schmitt: Als nachhaltige Investoren suchen auch wir den Dialog mit den Unternehmen, in die wir investieren möchten. Das ist unsere Aufgabe. Wenn unsere Nachhaltigkeitskriterien nicht erfüllt werden, dann können wir in diese Unternehmen nicht investieren, das kommunizieren wir auch. Das erzeugt natürlich Druck auf der anderen Seite, da sich das negativ auf den Aktienkurs und die Refinanzierungsmöglichkeiten auswirkt. Insbesondere dann, wenn das nicht nur wir machen, sondern viele andere Investoren ebenfalls. Dann muss das Unternehmen handeln und Anpassungen vornehmen. Wir sind mit den meisten Unternehmen, in die wir investiert sind, in einem permanenten Dialog.
Wären die Unternehmen lieber weniger nachhaltig?
Günther Schmitt: Nein, den Eindruck habe ich nicht. Es kommt sehr viel Druck von der Anlegerseite und das trägt Früchte. Wir haben eine Engagement-Datenbank, wo wir seit vielen Jahren alle unsere Gespräche mit den Unternehmen erfassen und so auch evaluieren können, was das gebracht hat. Damit will ich nicht sagen, dass genau wir den Ausschlag für die Änderungen gebracht haben, aber wenn wir die gleichen Punkte reklamieren wie zehn andere Investoren, dann hat das Unternehmen schlussendlich reagiert. Also auch der Dialog zwischen Investoren und Unternehmen kann viel bringen.
Machen wir noch eine Schlussrunde … Welche Gedanken möchten Sie noch einbringen?
Hanni Rützler: Aktuelle Krisen haben uns gezeigt, dass Essen etwas ganz Fundamentales ist. Es gibt uns Halt und Struktur und ich habe den Eindruck, dass Corona uns die Sinne dafür geschärft hat, was uns wichtig ist und was nicht. Essen hat auch eine große soziale Komponente. Deswegen glaube ich, dass dieses Thema ganz zentral ist, nicht nur für die Zukunft, sondern auch für die Identität und die Stabilität von Gesellschaften. Und da sind wir bei der Wertschätzung von Lebensmitteln. Es braucht nicht immer alles von allem, und das rund ums Jahr. Aber das, was wir haben, wollen wir mit gutem Gewissen genießen. Wir wollen auch, dass die Produzenten davon leben können. Ich glaube, wenn wir mehr über Essen und Lebensmittel informieren und mehr darüber reden und auch versuchen, dem Kochen als wichtiger Kulturtechnik wieder einen höheren Stellenwert zu geben, werden wir auch lernen, mit den Ressourcen besser umzugehen. Es wird uns auch bei anderen Problemen helfen, Stichwort Übergewicht, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf etc. Ich glaube, wir haben den Zenit überschritten. Es darf wieder ein bisschen weniger sein, dafür aber von besserer, nachhaltigerer Qualität.
Matthew Robin: Dem kann ich mich nur anschließen. Der Zenit ist überschritten. Wir bekommen immer mehr Rückmeldungen von unseren Konsumentinnen und Konsumenten, die beispielsweise wissen wollen, wieso wir im Winter Erdbeeren aus Südafrika verkaufen. Es wird aktiv diskutiert. Ich finde das sehr sinnvoll. Und es ist gut, dass speziell die jüngere Generation sehr kritisch ist. Sie teilt lieber, als zu besitzen. Ich finde diesen Trend sehr vielversprechend und positiv. Es stimmt mich optimistisch.
Franziska Gaupp: Aus dem Blickwinkel der Forschung ist auch das Thema Lebensmittelverschwendung extrem interessant. Wir arbeiten viel mit globalen zukunftsgerichteten Szenarien. Die Reduktion der Lebensmittelverschwendung spielt da immer eine ganz, ganz wichtige Rolle und ist ein wichtiges Forschungsthema. Leider gibt es derzeit noch nicht genug Informationen und politische Strategien, diese Verschwendung zu reduzieren. Doch es laufen sowohl in der Forschung als auch in der Politik verschiedene Projekte, die versuchen, mehr Daten zu erheben, damit man überhaupt erstmal weiß, wo Lebensmittel genau verlorengehen. Ungefähr ein Drittel der Nahrungsmittel wird zwischen Produktion und Konsum verschwendet. Wenn alle verschwendeten Lebensmittel ein Land wären, dann wäre es das Land mit der viertgrößten Treibhausgasemission. Wenn man sich das einmal vorstellt, dann wird einem auch bewusst, wie groß dieses Problem wirklich ist.